Die andere Seite der Teilchen

Wie Marc Weber, Hartmut Gemmeke und Nicole Ruiter aus Grundlagenforschung neue Produkte für den Weltmarkt schaffen.

Die Suche nach Antworten auf grundlegende Fragen in unserem Universum lässt Professor Marc Weber keine Ruhe. Der Physiker begibt sich mit seinem Institut am KIT auf die Spur der winzigsten Teilchen, die die Basis aller Existenz ausmachen. Das Team am Institut für Prozessdatenverarbeitung und Elektronik entwickelt Teilchendetektoren und schnellste Trigger- und Ausleseelektronik für größte Datenmengen. Damit helfen die Wissenschaftler, die Masse von Neutrinos zu messen, hochenergetische kosmische Strahlung zu detektieren, einen Kernfusionsreaktor zu ermöglichen und nach der dunklen Materie zu suchen, die 25 Prozent unseres Universums ausmacht. Diese rege Tätigkeit scheint weit weg von Bedarf und Nachfrage der Wirtschaftsmärkte. Trotzdem entwickelt das Institut zukunftsweisende Produkte für unterschiedlichste Branchen und erwirtschaftet damit 10 Prozent der Lizenzeinnahmen des KIT. Wie funktioniert das?

Für die Grundlagenforschung entwickeln wir Methoden und gewinnen Erkenntnisse, die wir danach für komplett andere Einsatzzwecke wiederverwenden“, erklärt Professor Weber. Dabei spielt manchmal der Zufall eine Rolle – nicht immer ist offensichtlich, dass sich das fundamentale Wissen aus wissenschaftlichen Großprojekten auch zum Einsatz in einer intelligenten Kamera, in einem Pipeline-Inspektionsroboter, in Autobatterien, in einem Lab-on-a-chip-System für die medizinische Analytik und Lebensmittelbranche oder für einen Bewegungsmelder eignet. Für all diese Produkte hat das Institut unverzichtbare Beiträge geliefert. „Trotzdem ist die Produktidee immer nur der erste und einfachste Schritt – die Realisierung ist oft eine große Herausforderung und kann Jahre in Anspruch nehmen“, so Weber.

Eine Erfahrung, die Professor Hartmut Gemmeke und Dr. Nicole Ruiter bestätigen können. Sie treiben die Entwicklung einer völlig neuen Technik zur Brustkrebsdiagnose voran. Zehn Prozent der Frauen in der westlichen Welt erkranken an Brustkrebs, etwa 30 Prozent von ihnen sterben an Metastasen. Bei der Diagnose mit klassischen Methoden ist ein Tumor in der Brust durchschnittlich einen Zentimeter groß. Am Institut für Prozessdatenverarbeitung und Elektronik haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den weltweit ersten 3D-Ultraschall-Computertomographen aufgebaut, der es erlaubt, hochaufgelöste Bilder der Brust aufzunehmen.

„Die Produktidee ist immer nur der erste und einfachste Schritt – die Realisierung stellt uns oft vor große Herausforderungen und kann Jahre in Anspruch nehmen.“

Professor Marc Weber

Hartmut Gemmeke ist Marc Webers Vorgänger als Institutsleiter und hatte einige Jahre vor seiner Emeritierung gemeinsam mit einem bekannten Mediziner die Idee, ein Gerät zur Brustkrebserkennung zu bauen, das so präzise misst wie eine Kernspintomographie und dabei so kostengünstig ist wie ein Röntgengerät für die Mammographie. Das Projekt hält ihn und die damalige Doktorandin Nicole Ruiter seit dieser Idee im Jahr 2000 gepackt – und mit Unterstützung von Marc Weber steht das kleine Team mit seinem Gerät zur ultraschallgestützten Brustkrebsdiagnose nun kurz vor der zweiten klinischen Studie im großen Rahmen. „Das Gerät hat das Potenzial, auch deutlich kleinere Tumore als bisher zu entdecken“, sagt die heutige Projektleiterin Nicole Ruiter vom IPE. „Wir wollen Tumore im Mittel so früh diagnostizieren, dass die Wahrscheinlichkeit einer Metastasierung bei nur noch fünf Prozent liegt.“

Technologisch stellt das Projekt eine große Herausforderung dar. Das Verfahren basiert auf 2.000 Ultraschallwandlern, die in einem wassergefüllten Untersuchungsbecken angeordnet sind. „Die Idee, Ultraschalltomographie zur Tumordetektion einzusetzen, existiert zwar schon seit Ende der 60er Jahre. Bis vor Kurzem war es jedoch nicht möglich, die bei den Messungen anfallenden Datenmengen in einem angemessenen Zeitraum zu verarbeiten“, erklärt Nicole Ruiter. Bei der Aufnahme eines Bildes entstehen große Rohdatenmengen, die anschließend für die Rekonstruktion dreidimensionaler Bilder verwendet werden. Die Ultraschallsensoren liefern während einer Messung eine Datenrate von rund 15 Gigabyte pro Sekunde, das entspricht etwa 20 CDs pro Sekunde. Inzwischen können mit dem zur klinischen Studie zugelassenen Gerät, einer Art Liegebank mit eingelassenem Untersuchungsbecken, innerhalb von drei Minuten Gewebeveränderungen bis zu unterhalb einer Größe von 0,2 Millimetern gemessen werden. Dabei wird nicht nur, wie bei der Mammographie, die veränderte Gewebsstruktur erkannt, sondern es besteht auch die Möglichkeit zu unterscheiden, ob es sich um gut- oder bösartiges Gewebe handelt. Ein Erfolg, der vielen Patientinnen das Leben retten könnte: Je früher der Brustkrebs erkannt wird, desto höher stehen die Heilungschancen. Eine erste Pilotstudie mit zehn Patientinnen war sehr erfolgreich.

„Wir greifen bei unserer Arbeit auf mindestens 25 Jahre grundlegender Erkenntnisse in der Ultraschalltechnik zurück und nutzen für viele Entwicklungsbereiche – von der Sensorik zur Erfassung der 3D-Daten über die elektronische Datenverarbeitung bis zum Auslesen und Auswerten der Daten – Techniken, die wir vorher für andere Projekte in der Grundlagenforschung entwickelt haben“, sagt Gemmeke.

Auch wenn der Fokus des Instituts nicht auf der Produktentwicklung liegt und Projekte wie die 3D-Ultraschall-Tomographie sozusagen „nebenbei“ entstanden sind, legt Marc Weber auf die Kombination aus Grundlegendem und Konkretem großen Wert: „Als Physiker suche ich nach dem Unteilbaren und interessiere mich für die Erforschung der Gesetze des Mikrokosmos. Da ist aber auch eine Sehnsucht nach dem Praktischen und nach Projekten mit einer klaren gesellschaftlichen Relevanz. Das macht es für mich wichtig, nach breiten Anwendungsmöglichkeiten für unsere Technologien zu suchen.“

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