Wissenschaftler rund um Professor Dr. Andreas Gerdes entschleunigen gemeinsam mit Industriepartnern den Alterungsprozess von technischer Infrastruktur und verlängern das Leben neuer Bauprojekte.
Schlaglochgezeichnete Straßen, marode Gebäude, einsturzgefährdete Brücken, veraltete Schienen oder leckende Versorgungsleitungen – all diese Beispiele sind offensichtliche Zeichen dafür, dass errichtete Infrastruktur nur eine begrenzte Nutzungsdauer hat. Im Bauwesen spricht man von der fehlenden Gebrauchstauglichkeit hinsichtlich der ursprünglich vorgesehenen Nutzung. Was so nüchtern klingt, bedeutet im Grunde, dass das weite Netz an Infrastruktur nicht endlos sicher und ohne Einschränkungen genutzt werden kann. Die geplante Lebensdauer wird in der Realität oft nicht einmal erreicht: Brücken, die nach der Planung 100 Jahre halten sollen, haben beispielsweise nur eine praktische Lebensdauer von 20 bis 30 Jahren. Geht man mit bewusstem Blick durch die Straßen, kann man den schleichenden Verfall oder besser den Instandsetzungsbedarf vielerorts erkennen.
Prof. Gerdes, Leiter der Forschungsgruppe Mineralische Grenzflächen am Institut für Funktionelle Grenzflächen des KIT, erläutert: „Es ist ganz natürlich, dass Materialien mit der Zeit ermüden. Denn die bauliche Substanz leidet nicht nur unter der natürlichen Witterung, sondern auch unter der Dauerbelastung der tagtäglichen Nutzung und zusätzlichen Einwirkungen, wie etwa durch Tausalz im Winter.“ Allein in Deutschland werden in den kommenden 15 Jahren vom Bund circa 260 Milliarden Euro in den Erhalt und Neubau der Infrastruktur investiert. Dies verabschiedete die Bundesregierung im sogenannten Bundesverkehrswegeplan. Rund die Hälfte dieser Gelder wird aufgewendet, um Straßen, Brücken, Versorgungsleitungen oder Gebäude in Schuss zu halten. Hier wird deutlich, wie investitionsintensiv allein die Instandsetzung ist.
Durch einerseits gezielte Präventionsmaßnahmen für Bestandsobjekte und andererseits den Neubau mit neusten Materialien und Technologien könnten die Lebenszyklen von Bauobjekten erheblich verlängert und die notwendigen Investitionen besser amortisiert werden. „Im KIT Innovation Hub ‚Prävention im Bauwesen‘ bringen wir die Wissenschaft auf die Baustelle. Alle Akteure – Bauherren, Rohstoffhersteller, Planer und Bauunternehmer – arbeiten im Projekt zusammen an einem strukturierten Innovationsprozess“, so Projektkoordinator Prof. Gerdes. Oberste Prämisse ist dabei ein produktorientierter Ansatz: In großen Arbeitsgruppen werden zukünftige Bedarfe der Baubranche diskutiert und identifiziert, für die dann gemeinsam konkrete Lösungen im Rahmen von einzelnen Forschungsprojekten entwickelt werden. So werden Technologien und Dienstleistungen entwickelt, mit deren Hilfe die Bauwerke vor Korrosion und anderen Schadensprozessen geschützt werden, um so das Versagen zu minimieren. Die technischen Lösungen sollen dann gezielt und zeitnah in den Markt transferiert werden.
Neben der Verjüngungskur der baulichen Substanz verschaffen solche Innovationen auch den Bauunternehmern einen klaren Wettbewerbsvorteil im hartumkämpften Markt. Sie können bei potenziellen Auftraggebern mit neuen Lösungen und der längeren Gebrauchstauglichkeit punkten. „Es ist Zeit, die Baubranche aufzurütteln“, macht Prof. Gerdes deutlich: „Denn nicht nur Baufirmen müssen umdenken, sondern auch die meist öffentlichen Bauherren.“ In der Regel sind bei der Auftragsvergabe die Erstellungskosten entscheidend: Wer die Ausschreibungsanforderungen erfüllt und das preisgünstigste Angebot unterbreitet, bekommt meist den Zuschlag. Doch geben die anfänglichen Baukosten noch lange keinen Aufschluss über die Kosten für den gesamten Lebenszyklus des Bauwerks. Unter schlechten Bedingungen kommen zeitlich und finanziell unkalkulierbare Instandsetzungskosten auf den Bauherren zu. „Prävention zu Baubeginn kostet nur 2 bis 5 Prozent der Bausumme mehr. Mit diesem vergleichsweise geringen Anteil kann jedoch die geplante Lebensdauer instandsetzungsfrei erreicht werden, sei es bei Neubau oder Sanierung“, bekräftigt der Bauchemiker Prof. Gerdes. „Dafür werden wir gemeinsam mit allen Akteuren entlang der Wertschöpfungskette im Hub in den kommenden Jahren für die Infrastrukturbereiche Energie, Wasser, Verkehr und kommunale Infrastruktur echte Innovationen entwickeln.“
„Es ist wichtig, dass im Bauwesen ein Umdenken stattfindet. Statt darauf zu setzen, die anfänglichen Baukosten so niedrig wie möglich zu halten, sollten die Kosten für den gesamten Lebenszyklus betrachtet werden. Hier kann man mit gezielten Präventionsmaßnahmen bei Neubau und Instandsetzung langfristig einen positiven Effekt erzielen.“
Modellkommune Malsch
Nachdem das geförderte Projekt „Prävention im Bauwesen“ 2016 gestartet ist, wurde der Malscher Bürgermeister Elmar Himmel darauf aufmerksam. Er erkannte das Potenzial, mithilfe der Forscher des KIT bei der Instandsetzung der örtlichen Hans-Thomas-Gemeinschaftsschule besonders nachhaltig sanieren zu können. Seitdem arbeiten das KIT und die Gemeinde Malsch gemeinsam an diesem und anderen Vorhaben. Die Zusammenarbeit ist auch für die Forscher ein Glückstreffer: Die entstehenden Ideen und Entwicklungen können direkt am lebenden Objekt erprobt werden. Neben der Schulsanierung sind weitere Projekte mit gezielten Präventionsmaßnahmen in der Gemeinde Malsch angedacht, wie etwa beim Hochwasserschutz.
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Bilder: KIT