KIT-Wissenschaftler um Professor Peter Nick kämpfen gegen das Pflanzensterben. Das sollte nicht nur Naturschützer interessieren: Seine Ideen haben Einfluss auf Branchen von der Pharmazie bis zum Weinbau.
Wie viele Pflanzenarten jährlich auf der Erde aussterben, ist nicht genau bekannt. Zwar gibt es Studien, wie die „Rote Liste“ der Weltnaturschutzunion, aber die Angaben schwanken und es ist nicht einmal ganz genau klar, wie viele Arten auf der Erde überhaupt existieren. Sicher ist jedoch, dass die Zahl der aussterbenden Pflanzen weit höher liegt als diejenige der neu entdeckten Pflanzen. Einig sind sich Wissenschaftler auch darüber, dass Artensterben an sich noch keine Bedrohung darstellt – es ist ein evolutionärer Prozess, völlig normal im Laufe der Erdgeschichte. Nicht normal ist jedoch die Geschwindigkeit, mit der Arten verschwinden. „Landwirtschaft, Treibhausgase, Trockenheit, Abholzung, Versalzung, Überzüchtung, Pestizide und Schädlinge – es gibt viele Gründe dafür, warum das heutige Aussterben vieler Pflanzen sehr viel schneller abläuft, als es natürlich der Fall wäre“, sagt Peter Nick.
Der KIT-Experte für Pflanzenzellen setzt sich leidenschaftlich dafür ein, die natürliche Vielfalt, auch Biodiversität genannt, zu erhalten und wirtschaftlich zu nutzen: „Viele Arten sterben sogar, bevor man sie entdeckt hat. Viele zucken mit den Achseln – was hat das mit mir zu tun? Aber wenn wir für unsere Enkel eine lebenswerte Welt hinterlassen möchten, brauchen wir Pflanzen, die robust und anspruchslos sind sowie neue Rohstoffe liefern. Wie wollen wir diese Pflanzen züchten, wenn wir vorher die Gene, die das können, ausgerottet haben?“
Am KIT arbeitet er zusammen mit Wissenschaftlern anderer Fachrichtungen an mehreren Fronten. So versucht sein Team sich an einer Verbindung zwischen Naturschutz, Artenrettung im botanischen Garten und einer Genbank wilder und gezüchteter Arten sowie an technologischen Verfahren, um aus Pflanzenzellen neue Produkte zu extrahieren. Gemeinsam mit KIT-Spezialisten für Mikrostrukturtechnik entwickelte er zum Beispiel einen Mikroreaktor, der die industrielle Medikamentenentwicklung aus Zellen ermöglicht, erforscht Möglichkeiten, die Widerstandsfähigkeit von Nutzpflanzen zu erhöhen, kreuzt Weinreben mit alten Wildsorten, um ganz neue krankheitsresistente Reben zu erhalten und erhöht die Stressresistenz von Reis.
Einige dieser Entwicklungen werden industriell eingesetzt: In einem Forschungsprojekt kombinieren Wissenschaftler des KIT ihre Expertise mit dem technologischen Know-how der Phyton Biotech GmbH, dem größten Produzenten pharmazeutischer Inhaltsstoffe mit Pflanzenzellen. Mithilfe eines mikrofluidischen Bioreaktors aus miteinander gekoppelten Modulen ahmen die Wissenschaftler komplexes Pflanzengewebe technisch nach, um Wirkstoffe gegen Krebs oder Alzheimer effektiver und günstiger zu gewinnen als bislang. Für Peter Nick nur eine unter vielen möglichen Anwendungen: „Spätestens seit Beginn der 1990er-Jahre hat man begriffen, dass Biodiversität auch handfeste wirtschaftliche Bedeutung hat. Trotzdem bergen unentdeckte Effekte von Pflanzenzellen noch ungeahntes Potenzial für viele Bereiche unseres Lebens. Dies bietet Industrieunternehmen mit Mut und technologischem Know-how Chancen für neue Produkte und Märkte.“
Der Erhalt der Artenvielfalt ist natürlich zunächst ein Wert an sich. Im zweiten Schritt sichert er uns die Lebensgrundlagen. Und die Forschung daran erzeugt neue Wege für Branchen wie die Pharma-, Medizin- und Lebensmitteltechnik.
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PFLANZENZELLEN AUF HIGHTECH-WEGEN
Eine von Professor Nicks Technologien beschäftigt sich mit der Optimierung von industriellen Prozessen zur Metabolitenproduktion. Dafür hat er gemeinsam mit Kollegen aus dem Institut für Mikrostrukturtechnik eine neuartige Mikrofluidik entwickelt, die komplexes Pflanzengewebe technisch nachahmt.
Mikrofluidische Systeme und Strukturen sind für viele technische Anwendungsgebiete interessant, zum Beispiel in der Medizintechnik und Biotechnologie. Zur Kultivierung von Zellen pflanzlicher Zellen werden sie bisher jedoch noch selten eingesetzt. Dabei gibt es hier sehr viel Potential für die Herstellung und Extraktion von Sekundärmetaboliten. Viele dieser nur aus Pflanzen hergestellten Substanzen können für Medikamente eingesetzt werden, sind bisher jedoch kaum synthetisch erzeugbar.
Wissenschaftler des Botanischen Instituts und des Instituts für Mikrostrukturtechnik am KIT haben einen mikrofluidischen Reaktor entwickelt, mit dem pharmazeutisch wirksamen Inhaltsstoffe über Pflanzenzell-Fermentation entwickelt werden können. Mögliche Anwendungsfelder sind die Produktion von Wirkstoffen gegen Krankheiten, aber auch gegen Schädlinge. Mithilfe eines mikrofluidischen Bioreaktors aus miteinander gekoppelten Modulen auf Polymer-Basis ahmen die Wissenschaftler komplexes Pflanzengewebe technisch nach. In jedem Einzelmodul wird ein Zelltyp beziehungsweise ein bestimmter Produktionsschritt verarbeitet. Über Kanäle sind die Module miteinander verbunden, die Ergebnissubstanzen inklusive Stoffwechselprodukte eines Zelltyps können so in das nächste Modul gelangen und dort weiterverarbeitet werden, ohne dass sich die unterschiedlichen Zelltypen vermischen. Die Zielsubstanz kann schließlich aus dem Durchfluss extrahiert werden.
In einer Kooperation mit dem Industriepartner Phyton wird ein Teil der Technologie für die Prozessoptimierung getestet.
ARTENPROJEKTE
„Pflanzliche Biodiversität ist wertvoll und dies nicht nur im übertragenen Sinn, sondern ganz handfest“, so Prof. Nick. In mehreren Projekten nutzt er mit seinem Team am Botanischen Institut des KIT Artenvielfalt, um daraus konkrete Anwendungen zu entwickeln. Im Zentrum stehen Nutzpflanzen wie Reis und Wein und deren wilde Verwandte, aber auch Pflanzen, die medizinisch genutzt werden. Im Rahmen von Kooperationen mit Industriepartnern stellt er sein Wissen und die Werkzeuge zur Verfügung. Dazu gehört unter anderem das „genetic barcoding“, die Authentifizierung mithilfe von Genmarkern. In Kombination mit der klassischen Authentifizierung, wie mikroskopischer Analyse, können so Herkunft und Authentizität verschiedener Pflanzen geprüft werden.
Das Team nutzt dafür die umfangreiche Sammlung von gut charakterisierten und überprüften Referenzpflanzen aus dem Botanischen Garten. Neben Kooperationen im Bereich Forschung und Entwicklung untersuchen die Wissenschaftler auch Dienstleistungen auf kommerzieller Basis, beispielsweise für Firmen, die mit pflanzlichen Produkten handeln oder diese verarbeiten.
Osmotischer Stress
Dürre, Bodenversalzung und Alkalinisierung nehmen zu und ziehen immense gesellschaftliche Probleme nach sich. Um die wachsende Weltbevölkerung mit ausreichend Nahrung versorgen zu können, braucht es neue gesunde und resistente Nutzpflanzen zum Anbau in klimatisch anspruchsvollen Gebieten. Das Team von Professor Nick hat nachgewiesen, dass Pflanzen intelligent auf Stressfaktoren reagieren können. Pflanzen sind offensichtlich in der Lage, auch komplexe Umweltsituationen zu analysieren und flexibel und angemessen darauf zu reagieren. Wie lässt sich diese Erkenntnis in Zukunft landwirtschaftlich nutzen?
Pflanzenstress (Botanisches Institut)
WEINREBEN-PROJEKT
Die Weinrebe ist sehr anfällig für Krankheitserreger, was großen Aufwand für den Pflanzenschutz mit sich bringt. Beispielsweise gehen etwa 70 Prozent der Fungizidproduktion auf das Konto des Weinbaus. Im Botanischen Garten des KIT hat das Team die fast ausgestorbene europäische Wildrebe kultiviert. Sie ist resistenter gegen Krankheiten wie den falschen Mehltau. Durch Neuzüchtungen kann so der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduziert werden.
Unser Wildrebenprojekt (Botanisches Institut)
TRENDPFLANZEN
Die Globalisierung schwemmt ständig neue Produkte auf den europäischen Markt, viele davon auf pflanzlicher Basis. Novel Food und funktionelle Nahrungsmittel stellen immer höhere Anforderungen an Verbraucherschutz und Qualitätskontrolle. Es ist oft sehr schwierig, diese zumeist exotischen Produkte zu erkennen und zuzuordnen. Der Verbraucher braucht aber die Sicherheit, dass drin ist, was draufsteht. Das Institut hat einen integrierten Ansatz entwickelt, um den Verbraucherschutz bei Trendpflanzen und den daraus hergestellten Handelsprodukten zu erhöhen.
Molekulare Authentifizierung (Botanisches Institut)
CHINESISCHE MEDIZIN
Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) wird weltweit gefragter und beruht auf etwa 1500 teilweise seltenen Pflanzen. Untersuchungen zeigen, dass etwa ein Viertel der Präparate durch andere Pflanzen gestreckt oder gar ersetzt wird. Im günstigsten Fall sind solche Surrogat-Produkte unwirksam, bei Verwechslungen mit giftigen Pflanzen können die Folgen fatal sein. Gemeinsam mit der Firma Phytocomm sucht Professor Nick nach Wegen, mehr Verbrauchersicherheit zu schaffen. So kann schon jetzt im Laufe einiger Stunden geklärt werden, wie sicher ein Präparat ist.
Die „echte“ Goji-Beere (Botanisches Institut)
AMARANT
Im Zuge von glutenfreier, vegetarischer und veganer Ernährung wird Amarant immer gefragter. Derzeit wird Amarant in Deutschland jedoch nur in sehr kleinem Umfang kultiviert, der Handel bezieht größere Chargen in der Regel aus Lateinamerika. Qualität und Identität des Materials sind dabei variabel und oft undefiniert. Am KIT wurden über 80 Amarant-Genotypen hinsichtlich ihrer Anbaueigenschaften untersucht und charakterisiert. Nun sollen aus den geeignetsten Genotypen neue Sorten gezüchtet werden.
Amarant als Funktionelles Nahrungsmittel (Botanisches Institut)
Bilder: KIT